Brauchen wir Feminismus im Jahr 2023 überhaupt noch?

09.01.2023: Ein 35-jähriger Mann würgt seine Ex-Freundin so lange, bis er glaubt, sie sei tot und legt sie in einer Tiefgarage ab. Einen Tag später tötet ein 17-jähriger Schüler seine Lehrerin mit einem Messer. Am 11. Januar verletzt ein 63-jähriger Mann seine Ex-Freundin und tötet deren Mutter.

Fast an jedem dritten Tag stirbt eine Frau durch die Hand ihres (Ex-)Partners. Dieses Phänomen bezeichnet man als Femizid. Definiert wird der Begriff als:

„Tödliche Gewalt gegen Frauen oder eine Frau aufgrund des Geschlechts.“

https://www.duden.de/rechtschreibung/Femizid

Grundsätzlich bezeichnet der Begriff die Tötung weiblicher Personen aufgrund geschlechtsspezifischer Macht. Oft wird der Ausdruck auch im Hintergrund von sexuellen Überfällen oder Mord durch Familienmitglieder genutzt. Meist werden Femizide durch männliche Partner oder Ex-Partner verübt.

Partnerschaftsgewalt

Frauen sind am häufigsten Opfer von häuslicher Gewalt, wie die kriminalstatistische Auswertung des Bundeskriminalamtes belegt: Knapp 115.000 der insgesamt 143.604 Opfer von Partnerschaftsgewalt waren 2021 weiblich. Das sind achtzig Prozent.

Christina Clemm, Fachanwältin für Familien- und Strafrecht in Berlin, äußert sich zu den Anfängen dieser Delikte:

Solche Femizide sind nicht selten. Besonders das Machtverhältnis zwischen Mann und Frau scheint ein Faktor zu sein. Zu diesen Ursachen äußert sich Christina Clemm, Fachanwältin für Familien- und Strafrecht in Berlin:

„Das ist häufig so eine Gewaltspirale. Es fängt mit einem Schlag an. Häufig ist es so, dass sich die Täter dann auch entschuldigen, sagen, es kommt nie wieder vor und ich werde mich ändern. Und dann kommt es aber das zweite Mal vor und das dritte und vierte Mal. Irgendwann hören Täter auch auf, sich zu entschuldigen. Und es geht immer weiter.“

https://www.ndr.de/kultur/Femizide-in-Deutschland-Fallzahlen-gehen-2021-leicht-zurueck,femizid100.html#:~:text=Im%20Jahr%202021%20starben%20113,einer%20bestehenden%20oder%20ehemaligen%20Partnerschaft.

Auch vor Gericht werden die Geschichten der Opfer häufig nicht angemessen betrachtet. Ihnen vorgeworfen, ihre Beziehung nicht frühzeitig verlassen zu haben oder falsche Anschuldigungen vorzubringen. Im englischen Sprachgebrauch wird dies als „victim blaming“ bezeichnet. Auch deshalb bleibt die Dunkelziffer bei häuslicher Gewalt ungewiss, man geht davon aus, dass sie sehr hoch ist.

Die Angst vor der Reaktion des Partners und zu wenig Unterstützung in ihrem Umfeld, aber eben auch die oben schon erwähnten juristischen Probleme halten Frauen davon ab, diese gewalttätigen Beziehungen zu verlassen. Hilfseinrichtungen wie Frauenhäuser sollen den Fels in der Brandung darstellen. Doch immer wieder müssen Frauenhäuser aufgrund von Platzmangel hilfesuchende Frauen ablehnen. Diese müssten also dringend ausgebaut und unterstützt werden, was nur zu erreichen ist, wenn das Thema präsenter in der Öffentlichkeit wird. Genau darauf will der Feminismus hinaus. Doch was ist Feminismus denn eigentlich genau?

Was ist Feminismus?

Der Duden definiert Feminismus als „Oberbegriff für verschiedene Strömungen, die sich für die Gleichberechtigung, Selbstbestimmung und Freiheit aller Geschlechter, v. a. von Frauen, und gegen Sexismus einsetzen, beispielsweise durch das Anstreben einer grundlegenden Veränderung gesellschaftlicher Normen (z. B. der traditionellen Rollenverteilung) und der patriarchalischen Kultur“. Kurz gesagt setzen sich Feminist:innen dafür ein, alte Rollenbilder und die Überordnung des Mannes abzuschaffen und für Gleichheit zwischen den Geschlechtern zu sorgen.

Die Anfänge der feministischen Bewegung

Um die ersten Anfänge des Feminismus zu verstehen, muss man zurück ins 18. Jahrhundert reisen. Wir schreiben das Jahr 1791: Olympe de Gouges, eine französische Revolutionärin, Frauenrechtlerin und Schriftstellerin, verfasst die „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“. Bis heute gilt sie als Vorreiterin der feministischen Freiheitsbewegung.

„Frauen, wacht auf! Was auch immer die Hürden sein werden, die man euch entgegen stellt, es liegt in eurer Macht, sie zu überwinden. Ihr müsst es nur wollen.“

https://www.boell.de/de/2018/07/03/von-welle-zu-welle#:~:text=Olympe%20de%20Gouges%20(1748%E2%80%931793,als%20Vorreiterin%20Grundgedanken%20der%20Frauenbewegung.

Nach der französischen Revolution wurde ein Versammlungs- und Vereinigungsverbot für Frauen ausgesprochen. Doch die Mühen der kämpfenden Frauen gingen nicht erfolglos in die Geschichte ein: 1918 wird das Wahlrecht für alle Bürgerinnen ab 21 Jahren in der Weimarer Verfassung verankert, damals sehr fortschrittlich im europäischen Vergleich. Dies stellte einen großen Erfolg für die feministische Bewegung dar.

Während der Zeit des Nationalsozialismus gab es wieder deutliche Rückschritte, was die Rechte von Frauen betraf. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg lebte in den 1960er Jahren die Frauenbewegung erneut auf. Auch die „Schwarze Feministische Frauenbewegung“ erlebte in den 1980er Jahren einen gewaltigen Aufschwung. Der Feminismus kämpft nun für alle Frauen, ohne Hinsicht auf Hautfarbe, Herkunft oder Religion.

Moderner Feminismus

Obwohl die Welt den Feminismus offenbar so dringend braucht, wird besonders der „moderne“ Feminismus oft missbilligend betrachtet. So schreibt Meike Lobo in der „Zeit“:

„Der moderne Feminismus hat ein Problem: Viele Anhängerinnen diskutieren zu laut und zu wütend über Sprache, Mütter und Vorstandsposten. Kritik lassen sie kaum gelten.“

https://www.zeit.de/kultur/2016-03/feminismus-kritik-debatte-frauen?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F

Ist der Feminismus wirklich von seinem eigentlichen Ziel abgekommen? Verlieren die neuen Feministen sich in ziellosen Debatten über Gendern, Farben und Männerhass? Dazu gibt es nicht die eine Wahrheit. Während manche Frauen sicher zustimmen würden, dass die endlosen Debatten über das „Gender-Sternchen“ nicht zielführend sind, so beschäftigt manch andere dieses Thema sehr. Und von Männerhass ist beim Feminismus nicht zu reden, so erläutert Soziologin und Geschlechterforscherin Dr. des. Franziska Schutzbach:

„Feminismus kritisiert vorherrschende patriarchale Männlichkeitsnormen, ruft aber nicht zum Hass auf. Feminismus setzt sich für eine gerechte Gesellschaft für alle Geschlechter ein.“

https://www.gwi-boell.de/de/2017/07/24/feminismus-ist-maennerhass-maenner-sind-die-eigentlichen-verlierer-der-gleichstellung

Denn auch Männer können durch das patriarchalische System, gegen welches der Feminismus kämpft, benachteiligt werden. Die Stigmata rund um die Emotionen des Mannes, die Pflicht, zu arbeiten und eine Familie zu gründen, können Männer stark belasten. Nicht grundlos liegt die Suizidrate bei Männern weit über der von Frauen. Den meisten Feminist:innen ist dies bewusst. Sie fordern eine Gleichberechtigung aller Geschlechter, nicht eine Unterordnung des männlichen Geschlechts.

Gender Pay Gap

Der Gender Pay Gap bezieht sich auf die Unterschiede im Stundenlohn zwischen Frauen und Männern. Ein Grund dafür kann sein, dass Frauen beispielsweise seltener Führungspositionen erhalten oder in schlechter bezahlten Positionen arbeiten als Männer. Einige Frauen erhalten auch dann weniger Lohn, wenn ihre Arbeit mit denen ihrer männlichen Kollegen vergleichbar ist.

Auf dem Arbeitsmarkt haben Frauen es generell oft schwieriger, weil Firmen Ausfälle der Frauen durch Familienplanung befürchten und sie es vor allem nach der Familiengründung oft schwerer haben, ihre Karriere voranzutreiben. Teilzeit in Führungsposition ist in vielen Firmen nicht erwünscht. In diesem Bereich hat sich jedoch schon viel verbessert. Beispielsweise existiert ein Kündigungsschutz bei Schwangerschaften und ein Mutterschaftsgeld, welches vor dem Mutterschutz beantragt werden kann.

„My body my choice“ – Abtreibung

Im Juni 2022 entschied der Supreme Court der USA, das Grundsatzurteil Roe v. Wade zu kippen. Dieses Gesetz hat Frauen landesweit bisher das Recht auf Abtreibung garantiert. Nun ist es in verschiedenen Staaten verboten, einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen. Für eine Abtreibung muss man nun teilweise stundenlange Fahrten oder Flugreisen in einen anderen Staat antreten, die sich nicht jeder leisten kann. Obwohl in Deutschland Schwangerschaftsabbrüche unter bestimmten Vorschriften straffrei sind, rief die Abschaffung des Gesetzes in Amerika auch hierzulande einen Aufschrei hervor. Feminist:innen sprachen davon, dass die Rechte von Frauen, frei über ihren Körper zu bestimmen, verletzt und geraubt wurden. Konservative betoten, dass das Leben des Kindes wichtiger sei als die Wünsche der Mutter. Die Debatte findet selten eine eindeutige Antwort. Auch Deutschland streitet schon lange über das Thema. Die bayerische Familienministerin aus der CSU, Ulrike Scharf, äußert sich:

„Wenn jemand schwanger wird, dann geht es meines Erachtens nicht nur um einen persönlich, sondern auch um den Schutz des ungeborenen Lebens.“

https://www.tagesspiegel.de/internationales/emport-bewegt-polarisiert-wie-die-politik-in-europa-und-den-usa-das-thema-abtreibung-fur-sich-nutzt-9278316.html

Anzumerken ist, dass in Deutschland acht Männer des Bundesverfassungsgerichts diese Rechtsprechung erstellt haben. Einer von ihnen soll sogar vor „Luxusabtreibungen“ gewarnt haben: Frauen könnten bei zu einfachem Zugang zu Abtreibungen diese als Ersatz für Verhütungsmittel nutzen. Schockiert reagieren Aktivist:innen darauf. Sei es mit Petitionen im Internet oder Demonstrationen auf der Straße: Frauen sind bereit, für ihre Entscheidungsfreiheit zu kämpfen. Jenny Beck, eine 26-jährige Studentin aus Berlin, berichtet über ihren Schwangerschaftsabbruch:

„Ich wusste ganz genau, dass ich noch kein Kind wollte, es passte nicht. Es war schlimm, aber es war auch eine Entscheidung für mein Leben. Die Gesetzgebung stellt ein großes Hindernis für ungewollt Schwangere dar. Dadurch wird der Eingriff unnötig erschwert.“

https://www.stern.de/politik/abtreibungen–es-ist-unsere-entscheidung–30551176.html

Gendermedizin: Geschlechtsbezogene Medizin

In 2014 erschüttert der SRF Deutschlands Feminist:innen mit der Veröffentlichung eines Artikels, in welchem Medizinhistorikerin Mariacarla Gadebusch Bondio über die Testung von Medikamenten berichtet. Über mehrere Jahrzehnte wurden jegliche Medikamente nur an Männern getestet. Frauen hätten nicht nur ein ganz anderes Schmerzempfinden und Gesundheitsverhalten als Männer, sondern unterschieden sich auch in biologischen Merkmalen wie „Genen, einer unterschiedliche Körperzusammensetzung und vor allem anderer hormonellen Ausprägungen sowie Stoffwechsel“, erläutert Bondio. Sie führt fort:

„Es gibt Beispiele, wo sich längst nach der Markteinführung von Medikamenten herausstellte, dass sie bei Frauen gravierende Schäden verursachten.“

https://www.srf.ch/wissen/gesundheit/medikamente-wurden-jahrzehntelang-nur-an-maennern-getestet

Laut ihr wäre es am sinnvollsten, für jedes Geschlecht einzelne Medikamente mit angepasster Dosierung herzustellen und zu verkaufen. Doch davon ist die Forschung wohl noch weit entfernt. „Die Genderforschung steht trotz aller Bemühungen in vielen medizinischen Bereichen noch am Anfang.“.

Die „Gender“-Debatte

„Was ist eine Frau?“ Mit dieser Frage werden Feminist:innen immer wieder konfrontiert. Eine Universalantwort haben sie bisher nicht gefunden. Birgit Kelle äußert sich der Thematik kritisch gegenüber:

„Frauen müssen zusammenhalten, gleichzeitig ist dieselbe Bewegung nicht einmal mehr in der Lage, zu benennen, was denn nun eine Frau überhaupt sei. Wann ist eine Frau eine Frau? Wenn DNA, Chromosomen, Biologie, Natur und wissenschaftliche Fakten sich dem gefühlten Geschlecht und selbst definierten Kategorien beugen sollen?“

https://www.nzz.ch/meinung/der-postmoderne-feminismus-verleugnet-die-echten-probleme-ld.1577662

Darauf gibt es verschiedene Reaktionen. Während sich manche der Zweigeschlechtlichkeit der Wissenschaft annehmen, sehen andere, wie zum Beispiel die Genderforschung, den Ursprung des Geschlechts in unserer Kultur und der Gesellschaft. Surur Abdul-Hussain und Roswitha Hofmann nennen dies „Doing Gender“:

„Die soziale Konstruktion von Geschlecht und Geschlechterverhältnissen wird (…) als Doing Gender beschrieben. (…) Gender zielt demnach darauf ab, Geschlecht bzw. Geschlechtszugehörigkeit nicht als Eigenschaft oder Merkmal von Individuen zu betrachten. Es ist vielmehr ein Ergebnis von Handlungen, an denen wir alle beteiligt sind.“

https://erwachsenenbildung.at/themen/diversitymanagement/theoretische_grundlagen/soziale_konstruktion.php#:~:text=Die%20soziale%20Konstruktion%20von%20Geschlecht,als%20soziale%20Unterscheidung%20hervorgebracht%20wird.

Auch in der Frage um das „Gender-Sternchen“ scheiden sich die Geister. Einerseits wird angebracht, dass unsere Sprache sich stetig verändert und viele Wörter, die wir täglich nutzen, vor vielen Jahren noch nicht existiert haben. Andererseits kritisieren viele, dass es die deutsche Sprache komplizierter und politisch aufgeladen macht.

Ist Feminismus also noch nötig?

Deutlich wird: Die feministische Bewegung ist noch längst nicht „out“. Genauso nötig wie früher ist eine Bewegung, die sich für die Rechte und Freiheiten aller Geschlechter einsetzt. Jeder Mensch sollte die Möglichkeit haben, sein Leben genauso auszuleben, wie er möchte, ohne Einschränkungen von patriarchalischen Systemen oder Diskriminierung.

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