Eine Kurzgeschichte von Elias Heckel
Das Vöglein zwitschert schon lange nicht mehr. Aus dem sicheren Nest gefallen in den
weichen Schnee, was gerade noch verschonte das Leben des kleinen Geschöpfs, das wird ihm
nun mit stechender Kälte ein Ende bereiten. Zu leicht, um einzusinken, zu schwach, um
aufzustehen, zu jung, um zu sterben.
Schnee im Sommer, wie konnte das passieren? Wer konnte das zulassen?
Nicht nur der Wald schaut schweigend dem Elend des Vögelchens zu, auch jene Seelen und
Engel, die hinabkommen um es zu bestaunen und hinfortzutragen, sobald der Kampf verloren
ist.
Mit letzter Kraft hebt das Vöglein den Kopf und sieht hoch zu seinem verlassenen Nest, wo es
warm und geborgen war. Es sieht die Baumwipfel, von denen anmutig die Schneeflocken der
letzten Nacht zu Boden fallen und beginnen, das frierende Vöglein einzudecken. Und es sieht,
ganz schwach und verschwommen, all die Seelen, die warten. Sie warten darauf, dass der
weiße Tod das arme Geschöpf einholt. Mit sich nehmen wollen sie es, an einen besseren Ort.
„An einen besseren Ort?“
„Ja, an einen besseren Ort. Jeder Ort wäre besser für diese arme Seele, als diese grausame
Welt, so gnadenlos und zerfressen von Ungerechtigkeiten.“
„Doch sah sie noch nichts von dieser Welt, in die sie geboren ward.“
„Kein Verlust.“
„Sie leidet.“
„Nicht mehr lange.“
„Retten werde ich sie, die frierende Seele. Erwärmen will ich sie, und Ihr werdet mich nicht
daran hindern.“
„Ein Fehler. Zerstörung jeglichen Gleichgewichts. Jeglicher Gerechtigkeit.“
„Gibt es hier nicht mehr.“
So kommt Ikarus herab, als das Vöglein gerade die Augen auf ewig zu schließen beginnt, und
legt seine brennenden Flügel um es. Der Schnee schmilzt augenblicklich.
Doch zu spät ist es. Das Vöglein ist bereits tot.
„Welch Grauen.“
„Der Kreislauf der Dinge. Des Lebens. Der Natur.“
„Unnatürlich ist jener Tod. Unnatürlich der Schnee im Sommer.“
„Nicht deine Schuld, Ikarus. Nicht deine.“
„Wer trägt sie dann?“
„Zu groß die Last des Todes ist, als das ein einziger sie auf seinen Schultern könnte tragen.“
„Der Mensch als Rasse. Schnee im Sommer klingt nach seinem Werk.“
„Vielleicht. Vielleicht nicht.“
„Ich will es wissen. Ich brauche eine Antwort.“
„Einen Sündenbock?“
„Brauchen wir alle.“
„Ich nicht.“
„Das Vöglein.“
„Ebenfalls nicht. An einem besseren Ort ist es nun.“
„Weiß niemand.“
„Ich weiß es. Und du solltest das auch, Ikarus.“
„Ich kann nicht.“
Da rascheln die Federn des Vögleins im leichten Hauche des Windes.
„Willst du es wissen, Ikarus?“
„Ich will, Dädalus.“
„Dann kannst du.“
Beitragsbild: Ikarus-Oilpainting by Heikenwaelder Hugo, Austria. For Details ask : heikenwaelder@aon.at via: https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:Ikarus-Painting.jpg